Jörg Birkenkötter (*1963) Départ
2. Attempt on Rimbaud [6vce,tbne,perc] 2002/03 Duration: 15'
SMezCounterTTBarB.tbne.perc
World première: Witten, May 10, 2003
Arthur Rimbaud schreibt in einem der sogenannten „Seher-Briefe“(1871): „Es geht darum, durch die Verwirrung aller Sinne im Unbekannten anzukommen.“ Und an einer anderen Stelle: „Der Dichter macht sich zum Seher durch eine dauernde, umfassende und planvolle Verwirrung aller Sinne.“
So findet man in Rimbauds Werk eine häufig magisch-beschwörende, dabei aber genau kalkulierte Sprache, deren Sinn sich jedoch dem einfachen Verstehen immer wieder entzieht. Verstehbarkeit und Allgemeinverständlichkeit als Kriterien künstlerischer Sprache existieren bei Rimbaud nicht (mehr). Neben diesem Konzept einer der geläufigen Realität inkommensurablen, poetisch gestalteten Wirklichkeit haben mich natürlich besonders die damit zusammenhängenden direkt musikalischen Qualitäten dieser Sprache, ihre subtilen Klangwirkungen und ungewöhnlichen syntaktischen Fügungen zu einer Auseinandersetzung angeregt. „Die Funde des Unbekannten fordern neue Formen“ heißt es an einer anderen Stelle der o.g. Briefe. Mein Stück ist u.a. in diesem Sinne unterwegs, auf der Suche nach seiner Form.
„Unterwegs“ ist es auch noch in einer anderen Hinsicht, als „work in progress“: Das Stück beruht auf einer älteren Version („Erster Versuch“) für vier Vokalsolisten ohne Instrumentalisten. Durch die Erweiterung um zwei Vokalisten und die Kombination bzw. Konfrontation mit Posaune und Schlagzeug entstand eine wesentlich komplexere, „sperrigere“ Ausgangssituation, die zu einer grundlegenden Umarbeitung und Neukomposition führte, obwohl die Musik formal weitgehend der früheren Version folgt.
Dabei habe ich einerseits versucht, trotz des oben Gesagten, einer vielleicht möglichen Semantik des Textes auf der Spur zu sein, andererseits, auf die Besonderheiten der Syntax und insbesondere die der Vers- und Zeilenstruktur zu reagieren. Darüber hinaus spielt die „Klangmelodie“ des Gedichts als Ausgangspunkt für die eigenen Klang-Findungen eine wichtige Rolle. Der vielschichtige Versuch, sich dem Text auf unterschiedlichen Ebenen zu nähern, führt zu einem verzweigten, teilweise widersprüchlichen Formverlauf der Musik. Die Form orientiert sich zwar erkennbar am Verlauf des Textes, durch Vorausnahmen und Rückgriffe, „polyphone“ Kombination verschiedener Textzeilen oder Worte und deren Projektionen in rein instrumentale Klänge, entsteht dabei eine noch komplexere Wahrnehmungssituation als es die rein textliche sein kann. Die Musik fügt dem Text durch die Gleichzeitigkeit verschiedener Gedanken und Gefühlsebenen und deren feinster klanglich-emotionaler Nuancierung eine nur ihr mögliche weitere Dimension hinzu.
Abgesehen von der ausgiebigen Verwendung von Vierteltönen sind die vokaltechnischen Mittel nur geringfügig erweitert. So tauchen neben dem „normalen“ Singen Rauschfarben, stimmlose „Flüstertöne“ auf: Ein vom Text gefärbtes Atmen, das das Körperliche der Klangerzeugung in den Vordergrund zu rückt. Davon ausgehend wird der Vokalklang an einigen Stellen erweitert durch gestrichene, also ebenfalls quasi „atmende“ Woodblocks und von dort aus weiter, auf immer wieder unterschiedliche Art und Weise in die instrumentalen Klänge von Posaune und Schlagzeug projiziert, transformiert, „übersetzt“.
J.B. (2003)
DÉPART
Assez vu. La vision s’est rencontrée à
tous les airs. '
Assez eu. Rumeurs des villes, le soir, et au
soleil, et toujours.
Assez connu. Les arrêts de la vie. - 0 Rumeurs
et Visions!
Départ dans l’affection et le bruit neufs!
Arthur Rimbaud
-Illuminations-
CD:
Neue Vocalsolisten Stuttgart, Uwe Dierksen (trombone), Dirk Rothbrust (percussion)
CD Dokumentation „Wittener Tage für neue Kammermusik 2003“, WD 2003