Die Komposition Morgenlied für großes Orchester gehört zur Reihe meiner Rhythmus-Kompositionen, Tonhöhen werden darin primär zu Rhythmusträgern. Dem Stück liegt der Rhythmus der cubanischen Guaracha zugrunde. Aus diesem Modell ist das ganze Stück entwickelt. Die 16 Sechzehntel der Gesamtdauer des Modells vergrößern sich zu 16 Teilen der Gesamtform. Die Anschlagsmenge 11 bedingt die Gliederung jedes dieser Teile in 11 Einheiten zu wieder je 11 Untereinheiten (Tempo-Grundschlag). Innerhalb dieses Zeitgerüsts, das das auf ca. 16 Minuten vergrößerte Rhythmusmodell ist, sind die verschiedenen Charaktere und Gestalten im Mikrobereich ebenfalls aus dem Proportions- und Anschlagsrepertoire des Modells entwickelt (zum Beispiel auch die Tempostufen). Von dieser ziemlich starren, gleichsam zudiktierenden Zeitkorsett-Architektonik heben sich verschiedene Ausdruckshaftigkeiten von Rhythmuskomposition ab, wie zum Beispiel elastisch, gespenstisch, vorwärtstreibend, drohend, aufheizend, befreiend, disziplinierend, einkreisend (so häufig bei Alban Berg), versteifend und anderes.
Solche Ausdruckshaftigkeiten können nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich fortschrittliche Funktionen haben.
An zwei herausragenden Stellen schlägt der Rhythmuspuls in "Melodie" von Liedern um. Das erste ist ein heute noch in Frankreich überall bekanntes Lied der Résistance. Das zweite, von Dieter Süverkrüp, gab durch seinen Text dem Stück den Titel:
"Wenn dieser Morgen kommt
und dieser Tag (in Vietnam),
wird manches andre Volk
nach seinen Herren sehen,
ist großer Zorn noch übrig."
Beide Lieder bilden zusammen mit dem Guaracha-Modell und der kompositorischen Verarbeitung und Anlage eine politisch verstehbare Einheit gezielter Emotionalität.
(Nicolaus A. Huber, 16. April 1981)


CD:
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Patrick Thomas
CD BMG/RCA 74321 73513 2 (Musik in Deutschland 1950-2000)


Bibliografie:

Keller, Stefan: Erweiterte Bezugnahmen, in: MusikTexte, Heft 148, Februar 2016, S. 8-11.