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  • Zender: Schuberts "Winterreise"
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Hans Zender (1936–2019) Schuberts „Winterreise“

Eine komponierte Interpretation [T,Orch] 1993 Dauer: 85' Text: Wilhelm Müller

Solo: T – 2(Picc.AFl).2(Ob.d’am[ad lib.].Eh.Muha).2(B-Klar.SSax.Muha).2(Kfg.Muha) – 1.1(Kornett[ad lib.]).1.0 – Pk.Schl(3) – Akk(Windmaschine I).Hfe(Rainmaker.Windmaschine II).Git(Rainmaker.Windmaschine III) – Str: 1.1.2.1.1

Uraufführung: Frankfurt am Main, 21. September 1993

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Notizen zu meiner Bearbeitung der Winterreise

Seit Erfindung der Notation ist die Überlieferung von Musik geteilt in den vom Komponisten fixierten Text und die vom Interpreten aktualisierte klingende Realität. Ich habe ein halbes Leben damit verbracht, möglichst textgetreue Interpretationen anzustreben – insbesondere von Schuberts Werken, die ich tief liebe –, um doch heute mir eingestehen zu müssen: es gibt keine originalgetreue Interpretation. So wichtig es ist, die Texte genauestens zu lesen, so unmöglich ist es, sie lediglich rekonstruierend zum Leben zu erwecken. Abgesehen davon, daß sich sehr viele Dinge, wie Instrumente, Säle, Bedeutung von Zeichen etc. verändert haben, muß man verstehen, daß jede Notenschrift in erster Linie eine Aufforderung zur Aktion ist und nicht eine eindeutige Beschreibung von Klängen. Es bedarf des schöpferischen Einsatzes des Interpretierenden, seines Temperamentes, seiner Intelligenz, seiner durch die Ästhetik der eigenen Zeit entwickelten Sensibilität, um eine wirklich lebendige und erregende Aufführung zustande zu bringen (ich rede nicht von äußerlicher Perfektion). Dann geht etwas vom Wesen des Interpreten in das aufgeführte Werk über: Er wird zum Mitautor. Verfälschung? Ich sage: schöpferische Veränderung. Die Musikwerke haben, wie auch die Theaterstücke, die Chance, sich durch große Interpretationen zu verjüngen. Diese sagen dann nicht nur etwas über den Interpreten aus, sondern sie bringen auch neue Aspekte des Werkes zu Bewusstsein.

Ein Werk wie die Winterreise ist eine Ikone unserer Musiktradition, eines der großen Meisterwerke Europas. Wird man ihm ganz gerecht, wenn man es nur in der heute üblichen Form – zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal – darstellt? Viele halten es für wichtig, sich darüber hinaus dem Klang des historischen Originals wiederanzunähern.

Das „heilige Original“ – es wird heute viel gepflegt, auf Hammerklavieren, Schubert-Flügeln, Kurzhalsgeigen und Holzflöten. Und das ist auch gut so, obwohl wir nicht der Illusion verfallen dürfen, daß Aufführungen mit historischen Instrumenten uns so ohne weiteres den Geist der Entstehungszeit zurückbringen könnten. Zu sehr haben sich unsere Hörgewohnheiten und unsere Ohren verändert, zu sehr ist unser Bewußtsein geprägt von Musik, die nach Schubert geschrieben wurde. Oft wird vielmehr eine „historisch-getreue“ Aufführung als „Verfremdung“ dessen, was wir gewohnt sind, gehört; auf jeden Fall als „Brechung“ des bisher einfachen Bildes, das wir von dem betreffenden Komponisten hatten. Hier liegt die Wichtigkeit der Erfahrung mit historischen Rekonstruktionen: Man sieht das Bild eines geliebten Meisters plötzlich doppelt und dreifach, sozusagen von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Perspektiven. Und hier ist auch der Ansatz für einen völlig unorthodoxen Umgang mit alten Texten, für das, was die Franzosen „lecture“ nennen – was man mit „individuell-interpretierender Lesart“ übersetzen könnte.

Meine „lecture“ der Winterreise sucht nicht nach einer neuen expressiven Deutung, sondern macht systematisch von den Freiheiten Gebrauch, welche alle Interpreten sich normalerweise auf intuitive Weise zubilligen: Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten, Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen. Dazu kommen die Möglichkeiten des „Lesens“ von Musik: innerhalb des Textes zu springen, Zeilen mehrfach zu wiederholen, die Kontinuität zu unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle zu vergleichen …

All diese Möglichkeiten werden in meiner Version kompositorischer Disziplin unterworfen und bilden so autonome formale Abläufe, die dem Schubertschen Original übergelegt werden. Die Verwandlung des Klavierklangs in die Vielfarbigkeit des Orchesters ist dabei nur einer unter vielen Aspekten: keineswegs handelt es sich hier um eine eindimensionale „Einfärbung“, sondern um Permutationen von Klangfarben, deren Ordnung von den formalen Gesetzen der Schubertschen Musik unabhängig ist. Die an wenigen Stellen auftretenden „Kontrafakturen“ (also die Hinzufügung frei erfundener Klänge zur Schubertschen Musik, als Vorspiele, Nachspiele, Zwischenspiele oder simultane „Zuspiele“) sind nur ein Extrem dieser Verfahrensweisen. Immerhin darf man sich erinnern, daß manche der großen Pianisten der Jahrhundertwende Überleitungen von einem Stück ihres Programmes zum nächsten zu improvisieren liebten … Eine andere extreme Möglichkeit, von der in meiner Bearbeitung Gebrauch gemacht wird, ist die Verschiebung der Klänge im Raum. Hier spätestens wird deutlich, daß alle beschriebenen formalen Kunstgriffe ja auch eine poetisch-symbolische Seite haben. Die Musiker selbst werden auf Wanderschaft geschickt, die Klänge „reisen“ durch den Raum, ja sogar bis ins Außerhalb des Raumes. So werfen auch manche der früher beschriebenen Eingriffe ins Original ein Schlaglicht auf die poetische Idee des einzelnen Liedes. Schubert arbeitet ja in seinen Liedkompositionen mit klanglichen „Chiffren“, um die magische Einheit von Text und Musik zu erreichen, welche insbesondere seine späten Zyklen auszeichnet. Er erfindet zum „Kernwort“ jedes Gedichtes eine keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet. Die geschilderten strukturellen Veränderungen meiner Bearbeitung entspringen immer diesen Keimen und entwickeln sie sozusagen über den Schubertschen Text hinaus: die Schritte in Nr. 1 und Nr. 8, das Wehen des Windes (Nr. 2, 19, 22), das Klirren des Eises (Nr. 3, 7), das verzweifelte Suchen nach Vergangenem (Nr. 4, 6), Halluzinationen und Irrlichter (Nr. 9, 11, 19), der Flug der Krähe, das Zittern der fallenden Blätter, das Knurren der Hunde, die Geräusche eines ankommenden Postwagens …

Auch stilistisch betrachtet enthalten ja die Spätwerke Schuberts Keime, welche erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung bei Bruckner, Wolf und Mahler aufgehen; an manchen Stellen der Winterreise ist man versucht zu sagen, daß der Expressionismus unseres Jahrhunderts schon avisiert wird. Auch diese Zukunftsperspektiven Schuberts will meine Bearbeitung aufzeigen - ebenso allerdings die Verwurzelung Schuberts in der Folklore. So werden schon im ersten Lied mehrere ästhetische Perspektiven überblendet: die Archaik von Akkordeon und Gitarre, die biedermeierliche Salonkultur des Streichquartetts, die extravertierte Dramatik der spätromantischen Sinfonik, die brutale Zeichenhaftigkeit moderner Klangformen … Für jedes Lied mußte im übrigen eine eigene Lösung gefunden werden, so daß sich die Gesamtheit des Zyklus wohl eher wie eine abenteuerliche Wanderung als wie ein wohldefinierter Spaziergang ausnehmen wird.

Ein letzter Gedanke sei hier skizziert. Wird bei Schubert die Winterreise im zweiten Teil zunehmend zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod, der Abschied von der Geliebten zu einem Abschied vom Leben überhaupt, so zwang dies zu einer besonderen Strategie in der Gestaltung des Schlusses. Die am Anfang trotz aller Verfremdung noch eindeutige Beziehung zum historischen Original wird in meiner Bearbeitung immer labiler, die „heile Welt“ der Tradition verschwindet immer mehr in eine nicht rückholbare Ferne. In Nr. 18 – „Stürmischer Morgen“ – flattern die Strukturen Schuberts, analog zum Text, nur noch als (Wolken-)Fetzen „umher in mattem Streit“, die freundliche Melodie von Nr. 19 – „Täuschung“ – wird zu einer täuschenden Ausgeburt eines wie eine Idée fixe auftauchenden Einzeltones; in „Mut“ pfeift der Wintersturm dem Leser (= Hörer) derartig um die Ohren, daß er ihn immer wieder zur Ausgangsposition zurückwirft. Der seltsame Gesang von den drei „Nebensonnen“ wird als endgültiger Verlust der Realität gedeutet: der Notentext erscheint gleichzeitig in drei konkurrierenden Tempi, wobei es unmöglich ist, eines davon als Koordinatensystem für die beiden anderen zu nutzen … Beim „Leiermann“ endlich verschwindet außer der zeitlich-metrischen Orientierung auch noch die harmonisch-räumliche Stabilität, indem durch immer neu hinzugefügte Unterquinten (abgeleitet aus dem 4. Takt des Schubert-Liedes) die Gestalten ihre „Beziehung zum Boden“ verlieren und am Schluß gleichsam „in die Erde sinken“.

Es wird berichtet, daß Schubert während der Komposition dieser Lieder nur selten und sehr verstört bei seinen Freunden erschien. Die ersten Aufführungen müssen eher Schrecken als Wohlgefallen ausgelöst haben. Wird es möglich sein, die ästhetische Routine unserer Klassiker-Rezeption, welche solche Erlebnisse fast unmöglich gemacht hat, zu durchbrechen, um eben diese Urimpulse, diese existentielle Wucht des Originals neu zu erleben?

(Mai 1993)


CDs:
Hans Peter Blochwitz (Tenor), Ensemble Modern, Ltg. Hans Zender
CD BMG 9026-68067-2
Christoph Prégardien (Tenor), Klangforum Wien, Ltg. Sylvain Cambreling
CD Kairos 0012002KAI
Julien Prégardien (T), Deutsche Radio Philharmonie Kaiserslautern, Ltg. Robert Reimer
2 CD’s P.RHÉI (2016)


Bibliografie:

Adam-Schmidmeier, Eva-Maria von: Schubert interpretieren. Hans Zender: „Schubert's Winterreise. Eine komponierte Interpretation“ im Unterricht, in: Musik und Unterricht Heft 96 (2009), S. 50-56.
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ders.: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“. Versuch zur Rettung der Vergangenheit – „Schuberts Winterreise. Eine komponierte Interpretation“ für Tenor und kleines Orchester (1993) von Hans Zender, in ders.: „Winterreisen“. Komponierte Wege von und zu Franz Schuberts Liederzyklus aus zwei Jahrhunderten, 2 Bände (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft, Band 150/151), Wilhelmshaven: Florian Noetzel 2006, S. 143-205.
Oberschmidt
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Schickhaus
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Zender, Hans: warum wieder die Winterreise? Hartmut Regitz im Gespräch mit dem Komponisten, in: ballet.tanz - international.aktuell, Heft 12 (2001), S. 18.

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© Breitkopf & Härtel - Letzte Änderung: Dec 4, 2025