Christian Mason (*1984) The Oddity Effect
[GCh,Ens] 2024 Dauer: 33' Text: Paul Griffiths
Chor: SATB(16) – 1.1.1.1 – 1.1.1.1 – Schl(2).Klav.Synth – Str: 1.1.2.2.1
Uraufführung: Frankfurt am Main, Alte Oper, 16. Mai 2025
Der Oddity-Effekt ist eine wissenschaftliche Hypothese, die sich mit der Bedeutung von Identität – Ähnlichkeit und Unterschied – innerhalb von Fischschwärmen befasst. Sie besagt, dass einzelne Tiere, die optisch aus der Gruppe herausstechen, mit größerer Wahrscheinlichkeit Opfer von Fressfeinden werden. Betrachtet man es so, möchte man lieber nicht auffallen. Natürlich ist dieser negative Aspekt nur eine Seite der „Andersartigkeit“ – jenseits der Welt der Fische sind die Beziehungen zwischen Gruppen und Individuen niemals so einfach!
Als ich Paul die Idee zum ersten Mal vorschlug, stellte ich mir ein Stück vor, das vollständig im Meer bleibt – doch er nahm den Gedanken auf und entwickelte ihn weiter: Aus dem anfänglichen Schwarm wurden eine Herde, eine Schar und schließlich eine Menschenmenge, die die späteren Sätze bilden. In jeder Szene hören wir denselben Gedanken in einem anderen Umfeld, und alle haben eine wiederkehrende dramatische Struktur gemeinsam – mit der unausweichlichen existenziellen Frage im Zentrum: „WER BIST DU?“
- first state: eine Gruppensituation, die durch das Auftauchen einer „Solo“-Figur gestört wird (nicht zwingend durch eine tatsächliche Solostimme)
- drama: die Frage („WER BIST DU?“), gefolgt von einem „Schluck“ (gulp) – der kollektiven Reaktion auf das Solo
- second state: Neuformierung der Gruppensituation
Dieses Modell gilt für die ersten drei Szenen, verändert sich jedoch in Szene 4, wenn wir der Menschenmenge begegnen. Hier wird die Frage „WER BIST DU?“ (gesungen von Sopran und Alt in Oktaven) in ein chaotisches kollektives Murmeln erschreckender Nachrichtenschlagzeilen eingeflochten. Die meisten dieser Schlagzeilen heben sich gegenseitig auf und werden zu ununterscheidbaren Bestandteilen der musikalischen Textur. Doch inmitten dieses verzweifelten Gemurmels erscheint plötzlich ein kurzer Choral – „Der neue Kalte Krieg, Die Krise…“. Am Ende der Szene erreichen wir einen Moment hoffnungsvoller Reflexion mit der dreifachen Wiederholung: „Wir müssen neue Paradiese erfinden…“
Doch dies geschieht noch vor der erneuten, nun eindringlicheren Wiederholung der Frage – woraufhin in Szene 5 die Menschenmenge zunehmend hysterisch, ängstlich, wild, wütend – und schließlich erschöpft – wird, inmitten eines wechselhaften emotionalen Cocktails. Der letzte „Schluck“ – kurz und alles andere als süß (elfmaliger Tutti-Ausbruch) – wird lediglich von wehmütiger Melancholie abgelöst, der Chor sinniert: „Ich werde müde! Lass uns gehen!“ – also doch nicht so hoffnungsvoll wie das Ende der vorherigen Szene.
| 1. scene 1 – shoal |
| 2. scene 2 – herd |
| 3. scene 3 – flock |
| 4. scene 4 – crowd I |
| 5. scene 5 – crowd II (Epilogue) |




